DAZZLE UND CAMOUFLAGE

WIE KRIEGSBEMALUNG UNSERE WAHRNEHMUNG TÄUSCHT UND GLEICHZEITIG EIN EXZENTRISCHES STIL-STATEMENT GEWORDEN IST

London, 1969. Die Beatles überqueren die Abbey
Road. Den Weg über die Straße weist ihnen ein Zebrastreifen.
Sechs weiße Balken auf schwarzem Asphalt
– kaum ein Verkehrssymbol steht so sehr für Ordnung und
Richtungsanweisung wie die an das Zebrafell erinnernde Markierung.
Dabei hat die Streifenzeichnung in der Natur genau die
gegenteilige Funktion; sie soll täuschen, damit sich die Umrisse der
Zebras aus der Ferne nicht erkennen lassen. Ein Flimmereffekt
entsteht,sodass Zebras in der Herde wie in der Steppe für Räuber
als einzelne Beute schwer greifbar werden.

Der britische Zoologe John Graham Kerr griff diesen optischen Effekt der
„Dazzle Camouflage“ auf und übertrug ihn auf Kriegsschiffe der Royal Navy.
In einem Brief an Winston Churchill 1914 erklärte er, dass diese Art der
Camouflage verwirren und nicht verbergen soll. Für das Dazzle sei es essenziell,
dass die regelmäßigen Umrisse der Schiffe gebrochen werden. Stark
kontrastierende Muster würden Giraffen, Zebras und Jaguars im Zoo oder
Museum verdächtig wirken lassen, doch in der freien Natur, besonders wenn
sie sich bewegen, ließen sie sich ausgesprochen schwer erfassen. Als in Europa
1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, kam das Dazzle-System schließlich
zum Einsatz, denn deutsche U-Boote drohten den britischen Schiffshandel
zu zerstören. In Anlehnung an Camouflage-Muster aus der Flora und Fauna
wurden 4000 Händler- und 400 Kriegsschiffe mit dem Dazzle-Design versehen.
Die Idee war die Schiffe nicht zu verstecken, sondern in einer Art zu
bemalen, dass ihre Erscheinung einer optischen Verzerrung gleicht, was es
vor allem gegnerischen U-Booten erschweren sollte, die Schiffe anzuvisieren.
Die meisten Schiffe wurden in kontrastierenden Streifen und Kurvenformen
gestaltet, welche die markante Form der Schiffe durchkreuzten. Mit grellen
Farben und flickenartigen Strukturen erinnerte das Dazzle an die aufkommende
moderne Kunst der Kubisten und Konstruktivisten am Anfang des 20.
Jahrunderts. Tatsächlich wurde das Dazzle-Design von Norman Wilkinson,
einem Marine-Maler, ausgearbeitet und der Künstler Edward Wadsworth
leitete die Anwendung der Dazzle-Bemusterung auf über 2000 Schiffen, das
er später zum Thema einer Bilder-Serie machte.

Kein Dazzle: Klassische Camouflage-Muster sollen Objekte von ihrem Hintergrund verschwinden lassen und manchmal auch urbane Zielgruppen ansprechen, wie der Fiat 500 und die Casio G-Shock mit Tarn-Muster

Foto G-Shock: Nicolas Schwaiger

Die enge Beziehung der Dazzle-Ästhetik zur britischen Kunst hing auch mit der
Produktion zusammen. Denn jedes Muster war einzigartig und wurde zum
Großteil von Frauen der Royal Academy of Arts in London entwickelt.
Die Dazzle-Camouflage wurde stetig weiterentwickelt und deren Verzerrungs-
effekt an Miniatur-Holzschiffen im Studio simuliert. Obwohl das Dazzle-
Prinzip im Ersten und im Zweiten Weltkrieg bei der britischen und
auch der US-amerikanischen Flotte breite Anwendung fand, konnte
die Effizienz der Technik nie belegt werden.
Mit dem Aufkommen neuer Ortungsmethoden ist die Dazzle-Camouflage
als Kriegstechnologie überholt. In der Kunst- und Designwelt hingegen bleibt
Dazzle eine Quelle der Inspiration. Bereits Picasso verwies auf die Parallelen
zwischen Dazzle und Techniken der kubistischen Kunst. Historische
Hintergründe und Entwicklung zur Ästhetik des Dazzle haben in den letzen
Jahren Museumsausstellungen aufgearbeitet, 2007 im Imperial War Museum
London, oder 2009 in der Rhode Island School of Design, USA. Gleichzeitig
steht besonders in der Welt des Designs die Camouflage hoch im Kurs: sei es
Porzellan, Sneaker oder Accessoires wie die G-Shock Camo Collection. In der
Kunstwelt taucht Dazzle in den letzten paar Jahren wieder auf Schiffen auf.
Prominenteste Beispiele stammen von Künstlern wie Jeff Koons und Tobias
Rehberger, die beide Yachten umgestaltet haben. So ganz entfunktionalisiert
wird die Kriegsbemalung dieser Schiffe zu einem visuellen Erlebnis,
die Täuschungseigenschaft bleibt erhalten und thematisiert die Kunst, die
immer schon unsere Wahrnehmung der Welt ein bisschen verzerrt hat.

 


Erschienen in INTERSECTION Nr. 19

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