André Saraiva: Le Baron

Niveau ist eine Frage von Stil, das wusste der unnachahmliche André Saraiva schon immer! Der Pariser Graffiti-Künstler und Entrepreneur hat nicht nur verändert, wie wir schauen, sondern auch, wie wir (miteinander) schlafen! Ein Interview über Kunst, das Internet und begehrenswerte Frauen im Café seines Hotels Grand Amour

Die 80er-Jahre haben ihn die Regeln der Straße, des Undergrounds, des Nachtlebens und später der Kunst-Welt gelehrt. Doch blind folgen wollte ihnen der in Uppsala, Schweden geborene und in Paris aufgewachsene Graffiti-Künstler André Saraiva nie. Als mittelloser Teenager in der brodelnden, französischen Hauptstadt ersetzte er noch vor Kunst-Legenden wie Banksy und Kaws die Signatur seiner Graffiti-Tags mit einer Zeichnung. Seinen Mr. A, ein rundes, breit lachendes, zwinkerndes Gesicht auf überlangen Beinen, findet man mittlerweile weltweit nicht nur auf Gebäudemauern, sondern auch auf Kunstwerken, Skateboards, einem Rolls-Royce, auf T-Shirts, Louis-Vuitton-Halstüchern oder auf Chanel-Taschen! Die Welt ist André Saraiva zur Leinwand der Selbstdarstellung, er selbst mittlerweile zur Marke geworden. André hat Nachtclubs und Hotels eröffnet, initiiert eine Kooperation nach der anderen, und doch, seinen Werten ist er treu geblieben. Charmant und wie immer gut gelaunt erscheint er nach dem Fotoshooting zum Interview. Sein Look: unverkennbar! Zu einer Jeans trägt er einen Rolli mit grauem Sakko. Wir sitzen im Restaurant seines vor Kurzem eröffneten Hotels „Grand Amour“ nahe dem Gare de L’Est in Paris. André bestellt Café, Wasser und Kekse. Es kann losgehen!
 
Erinnerst du dich an die ersten Intersection-Ausgaben?
Ja, ich erinnere mich tatsächlich gut daran, denn Yorgo Tloupas, der französische Chefredakteur, ist ein Freund von mir! Damals gab es auf dem Markt nur Automagazine, die sehr „mainstreamig” oder „cheesy“ gemacht waren. Die „Intersection“ näherte sich als erstes Magazin dem Thema Mobilität auf eine sehr ästhetische Weise an und verband es mit Themen aus Design und Architektur, was cool und neu war.
 
Liest du Automagazine, abgesehen von der Intersection natürlich (Räusper)?
Ich muss gestehen, dass mein Verhältnis zu Autos ziemlich witzig ist. Ich brauchte eigentlich nie in meinem Leben eins, ich lebte schließlich in Paris. Erst als ich vor ein paar Jahren öfters nach L.A. zu reisen begann, weckten Autos mein Interesse. Dort habe ich dann auch meinen Führerschein gemacht. Jetzt lese ich schon öfters Automagazine.
 
Wann hast du dir dein erstes Auto gekauft?
Ich habe mir vor Kurzem in L.A. einen 911er Porsche aus den 70er-Jahren gekauft, man bessert ihn gerade aus.
 
Warum einen Porsche?
Ich mag viele Autos, aber Porsche ist mein Favorit. Für mich sind an einem Auto Ästhetik und Design das A und O, ebenso aber natürlich auch, wie sich das Auto fährt. Beim Porsche stimmt alles! Und ich mag Oldtimer. Die Vorstellung, ein Auto für die nächsten 10, 20 Jahre zu kaufen, gefällt mir, ich bin ein Nostalgiker! Ich mag es nicht, dass man ständig neue Autos konsumieren muss. Nach ein, zwei Jahren kaufen sich viele ja schon wieder das nächste.
 
Du hattest mir vor Kurzem erzählt, dass du gerne eine Rennfahrer-Lizenz machen möchtest. Stehst du auf Geschwindigkeit?
(Lacht) Ich denke, das ist der Traum von fast jedem Jungen, sie wollen alle Rennfahrer werden. Das ist eben cool und „fancy“!
 
Verbindest du Autofahren mit Freiheit?
In gewisser Weise schon. Ich glaube zwar, dass Freiheit bedeutet, nichts oder sehr wenig zu besitzen und ein Auto macht eben oft auch Probleme. Dennoch ermöglicht es dir, von heute auf morgen wegzufahren, gleich wohin. Man ist so einfach freier und flexibler.
 
Was hälst du vom autonomen Fahren?
Die Vorstellung, in ein „Uber“-Auto zu steigen, in dem gar kein „Uber“-Fahrer mehr drin sitzt, ist sehr komisch, aber super interessant. Vor allem der Aspekt der Risikosenkung durch das Vermeiden von menschlichen Fehlern spricht natürlich für autonome Systeme. Das Autofahren könnte so viel sicherer werden. Andereseits bedeutet absolute Sicherheit auch immer weniger Vergnügen.

"GRAFFITI WAR FÜR MICH EINE MÖGLICHKEIT DER KOMMUNIKATION, AUCH UM DIE AUFMERKSAMKEIT DER MÄDELS ZU BEKOMMEN"

Wie bewegst du dich gerne in einer Stadt fort?
Ich liebe es zu laufen und früher bin ich in Paris auch oft mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. In den 80ern und 90ern bin ich viel Vespa gefahren. Ich hatte mir damals mehrere gekauft, hin und wieder fahre ich sie auch noch. Heute allerdings habe ich auch gerne einen Fahrer, so kann ich im Auto arbeiten.
 
Vespafahren, das klingt romantisch …
Ja, ich würde gerne mit meiner Freundin auf der Vespa durch Paris fahren (lacht). Es kommt aber natürlich immer darauf an, wo du bist. In Rom brauchst du eine Vespa, in Paris ein Vélosolex, in L.A. ein Cabriolet, in New York ein gelbes Taxi, in den Niederlanden ein Hollandfahrrad, in Tokio die Subway. Jede Stadt hat ihre eigenen Transportmittel. Aber ich denke, die wichtigste und menschlichste Art der Mobilität ist das Laufen – du interagierst mit der Stadt und der Umgebung.
Durch die rasende Geschwindigkeit unseres Alltags nehmen wir uns oft keine Zeit mehr für unsere Umwelt. Wie glaubst du hat sich dieses Tem- po auf die Wahrnehmung von Kunst im öffentlichen Raum ausgewirkt? Ich denke, Kunst war wie vieles früher schwieriger zu greifen als heute. Durch die Entwicklung der Medien und die sozialen Medien hat sich das Ganze geöff- net, Kunst ist heute viel populärer. Als Künstler kannst du im kleinsten Dorf am Ende der Welt leben, trotzdem erreichst du im besten Fall ein Riesenpu- blikum. Dadurch, dass sie überall sein kann, hat sich die Kunst fundamental verändert. Sie ist demokratischer und zugänglicher geworden.
 
Ist das eine positive Entwicklung?
Absolut! Ich denke, Kunst und Lyrik brauchen wir wie Essen und Trinken. Jeder sollte hierzu Zugang haben. Für mich war es als Kind und Jugendlicher etwa immer sehr schwierig, an gute Musik zu kommen, New Wave, Punk und dann später Hip-Hop – es gab keine Radiosender, die das spielten. Für die coolste Mode musste man mit dem Schiff rüber nach London fahren. Als wir mit Graffiti begannen, gab es keine Filme, keine Bücher darüber. Wir mussten uns und unsere Sprache neu erfinden. Wenn man Glück hatte, besaß man Freunde, die nach New York gingen und Fotos von Graffiti-Werken machten. Wenn man Informationen wollte, musste man dafür arbeiten, das machte alles sehr rar und einzigartig. Heute denke ich, kann jeder alles sein, was auch etwas Gutes hat. Die 90er waren die Zeiten des Mainstreams und der Werbung. Ich glaube, die sozialen Medien haben das runtergebrochen, was die Masse durch die Medien konsumieren wollte, bedeutsame Bewegungen und nicht nur Pop-Groups wie die Spice Girls. Worin siehst du die Beständigkeit von Graffiti-Kunst? Wir leben in einer Welt, in der du alles kaufen und verkaufen kannst. Das Besondere an Graffiti ist, dass es weniger vom Kunstmarkt und dessen Werten abhängt. Graffiti-Kunst ist ein Geschenk an die Menschen. Ich mag auch die Idee, dass du etwas erschaffst, was nur kurze Zeit später wieder verschwinden kann. Es bleiben dir ein, zwei Tage, wenn du Glück hast auch ein paar Wochen, mehr nicht. Dennoch hat es einen großen Wert: Graffiti ist nicht nur ein Resultat, es ist auch eine Handlung. In manchen Städten versuchen sie heute Graffiti-Werke zu schützen. Nicht aber hier in Paris, hier verstehen sie das nicht.
 
Früher hast du oft auch Frauennamen gesprayt!
(Lacht). Ja, Graffiti war für mich eine Möglichkeit der Kommunikation, auch um die Aufmerksamkeit der Mädels zu bekommen. Allerdings verstanden sie das damals noch nicht und fragten mich, was ich denn da bloß tue, das sei nicht cool!
 
Wie, du konntest sie nicht beeindrucken?
Nein, zuerst nicht, aber dann habe ich ihnen Briefe geschrieben und zeichnete ihre Namen in großen, pinken Buchstaben, das war damals total mein Ding. Manchmal habe ich sie auch an die Hauswände der Mädels gesprüht. Es funktionierte, sie begannen Interesse zu zeigen. Graffiti ist eben kein Vandalismus, es ist ein wunderschönes Verbrechen.

 

"DER TRAUM EINES JEDEN JUNGEN IST ES, EIN RENNFAHRER ZU SEIN. DAS IST COOL"

In São Paolo gibt es eine Graffiti-Art namens Pichação. Die Akteure, meist aus den Favelas, sprühen ihre Tags oft in extremer Höhe und vor allem dort, wo es strikt verboten ist. Geht es bei Graffiti nicht letztendlich auch darum, wo man sich platziert?
Oh ja. Ich bin in den frühen 90er-Jahren nach Brasilien gegangen. Graffiti war dort etwas ganz anderes, als wie wir es kannten. Die Kids aus den Favelas haben in ihrer eigenen Typografie ihre Namen auf Gebäude gesprüht. Ich bin dort damals lang gelaufen und habe mich gefragt, wie sie es geschafft haben, auf die Gebäude zu kommen. Bei Graffiti geht es viel um den richtigen Platz, etwa wie ein Surfer den besten Spot suchen muss. Für das Sprayen sucht man sich einen Platz, der gut sichtbar und gefährlich ist, idealerweise in einer Höhe, die das Reinigen schwer macht und bei der die Betrachter wirklich beeindruckt sind.
 
Hast du damals auch auf Autos gesprüht?
Ich habe viel auf Trucks gesprüht. Allerdings gibt es in der Graffiti-Szene die Regel, dass man keine Tags auf persönliche Dinge wie Autos machen darf. Ich glaube, ein oder zweimal habe ich einen teuren Rolls-Royce besprüht, aber normalerweise hat die Graffiti-Szene eben einen gewissen Respekt vor so etwas. Ich weiß nicht wirklich warum.
 
Welche deiner Aktionen hat dich in deinem Leben in die größte Gefahr gebracht?
Das war wohl, als ich eine Polizeistation besprüht habe und mich die Polizei dann verfolgte. Aber das gehört zu Graffiti dazu. Ich war an der Spitze der Liste der meist gesuchtesten Graffiti-Sprüher. Einmal habe ich auch die alte Fassade des Pariser Turms „Saint-Jacques“ besprüht. Mein „Mr A“ war 24 Meter hoch, das hat mich viel Zeit gekostet und war gefährlich. Illegale Aktionen haben nun mal Konsequenzen, als Graffiti-Künstler musst du da durch. Ich habe das nun fast 30 Jahre gemacht, mit teils zehn Graffitis am Tag. Gott sei Dank gibt es die rechtliche Verjährung (lacht). Ich wurde oft verurteilt nach meine Aktionen, hatte aber meist Glück. Manchmal musste ich aber auch nach Portugal fliehen.
 
In Lissabon arbeitest du gerade an einem Projekt, bei dem du große Keramikmauern der Stadt bemalst, ein ehrenwerter Auftrag!
Ja, es ist ein wahnsinnig tolles Projekt, denn zum ersten Mal mache ich ein Graffiti, das wohlmöglich für die nächsten 100 Jahre bestehen bleibt.
 
Deine Kunst und auch dein ganzes Auftreten ist immer so wahnsinnig positiv. Glaubst du, dass dich das Reisen geprägt hat?
Reisen macht Spaß, ist aber auch ein sehr gutes Training. Es hat etwas Philosophisches, denn du kannst deine Perspektive und deinen Standpunkt regelmäßig in einem völlig anderen Kontext reflektieren. So kannst du es schaffen, Menschen und Dingen viel positiver und offener zu begegnen. Oft sind unsere eigenen Probleme nichts im Vergleich zu den Problemen anderer.
 
Manchmal ist das Reisen auch eine sehr gute Fluchtmöglichkeit.
Ja, vielleicht! Manchmal, wenn du an mehreren Problemen zu kauen hast, tut es gut, sich weit von ihnen zu entfernen und für eine kurze Zeit dem Negativen zu entfliehen.
 
Du bist in Schweden geboren und aufgewachsen und mit 10 Jahren mit deinen Eltern nach Paris gezogen, zwei sehr unterschiedliche Regionen. Eines der witzigsten Worte, das ich wohl je gehört habe, ist schwedisch und lautet „Knullkompi“….
Ja, darf ich vorstellen, mein „Fickfreund“ (lacht). Es ist ein völlig normaler Begriff für etwas wie eine Affaire. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich als Kind nach Paris zog, das war wie eine Zeitreise zurück in die Vergangenheit. Die Schulen waren super streng. Ich hatte in Schweden damals schon Sexualerziehung genießen dürfen und war von dieser Offenheit geprägt. Dadurch konnte ich den französischen Kids ziemlich viel erklären und machte so schnell Freunde (lacht). Später lernte ich aber auch die großen Vorteile von Paris kennen, die Architektur, die Filme, die Kunst und Museen – ich fühlte mich sehr wohl in diesem kulturellen Mix. Statt in Parks rumzuhängen und dort zu rauchen ging ich ins Centre Georges Pompidou und entdeckte zeitge- nössische und moderne Künstler.
 
Mittlerweile hast du deine Wohnung in Paris aufgegeben und bist nach New York gezogen. Als wir dich dort besuchten, damals hast du noch gependelt, waren wir sehr beeindruckt von deinem super reduzierten Gepäck. Wie hat das Reisen deinen Kleidungsstil geprägt?
Ich reise sehr minimal, das habe ich gelernt. Ich nehme für gewöhnlich nur Socken, Jeans, T-Shirts, Jacken, ein Buch, meinen Reisepass und Bargeld mit. Mein Kleidungsstil hat sich mehr und mehr auf Basics reduziert, weniger Sachen, die man bügeln muss. T-Shirts und blaue Jeans sind das Beste, was jemals erfunden wurde. Nicht anders reise ich auch momentan. So, jetzt muss ich gleich los zum Flughafen.
 
Nächster Stopp?
Lissabon und mein Projekt!
 
Vielen Dank, André!
Habe ich heute gute Arbeit geleistet?
 
Ja, dafür dass du das hier alles zum ersten Mal gemacht hast. (lacht)
 
 
Produktion und Interview: Sina Braetz
Fotos: Stefan Armbruster

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