Das Motorrad-Talent Lucy Glöckner macht sich nach Colorado auf, um beim berühmtesten Bergrennen der Welt den Pikes Peak zu bezwingen. Eine Mission, bei der es darum geht, auf Zeit und nahezu ohne Training den 4300 Meter hohen Gipfel zu erklimmen. Für INTERSECTION hat sich Autor Philipp Stadler einen Traum er- füllt und ist die weite Reise ins Herz der USA angetreten um Lucy bei ihrer Pikes Peak-Premiere zu begleiten.
Neue Frauen braucht das Land
Touch down Denver. Nach der Überquerung der schier endlosen Prärie streckt sich die Skyline der amerikanischen Millionen-Metro- pole am Rande der Rocky Mountains dem Himmel entgegen. Als ob sie sich mit dem gigantischen Gebirgsmassiv messen wollte, das sich hinter ihr aufbaut. Von hier aus geht es über den Highway knapp zwei Stunden südlich nach Colorado Springs. Der Ort klingt nach Goldgräberdorf, aber das ist lange her. Die City boomt. Die Rüstungsindustrie, die US-Army mit ihrer riesigen Militärakademie und obendrein dank der Rocky-Minen gut gehende Rohstoff-Geschäfte, haben mittlerweile eine halbe Million Einwohner in die Mitte von nirgendwo gelockt.
Down Town gibt es freitags das „Pikes Peak Fan Fest“. Ein Spektakel für den amerikanischen Vollblutmotoristen. Das komplette Line-up der Rennteilnehmer reiht sich mit zugehörigen Fahrzeugen den Gehsteigen entlang auf, dazwischen Familien, Legenden und Motorradstuntshows. Hier treffe ich erstmals auf das Team von Wunderlich Racing, bei dem Lucy im Sattel sitzt. Die Begrüßung ist unkompliziert und herzlich. Motorrad-Life eben. Lucy ist ein Energiebündel und hält alle auf Trab. Auch Team-Chef Frank Hoffmann ist eine Legende. Eine schier unerschöpfliche Quelle atemberaubender Anekdoten. Als gefragter House-DJ finanzierte er sich in den 90er-Jahren den Start seiner Zweirad-Motorsport-Karriere, später steigt er beim Motor- radzubehör-Spezialisten Wunderlich ein, den er zusammen mit Unternehmensgründer Erich Wunderlich zum Weltmarktführer für BMW-Motorräder aufbaut.
So war es auch, als Spencer Penrose 1916 das erste „Race to the Clouds“ ausrief. Die Idee war, seine gebührenpflichtige Straße auf den Gipfel des Pikes Peak zu promoten. Noch heute ist es ein Rennen der absoluten Extreme. Der Start liegt auf 2862 Metern über dem Meeresspiegel. Über 156 Kurven geht es dann unerbittlich bergauf zum Ziel auf 4300 Metern. Früher eine Schotterpiste, ist die Strecke seit 2011 bis ins Ziel geteert. Knapp 20 Kilometer, meist flankiert von steilen Abhängen. Deren Anblick dürfte für dutzende Fahrer das Letzte gewesen sein, was sie von dieser Welt sehen durften. Die stets dünner werdende Luft und abfallende Temperaturen sind große Handicaps für Mensch, Maschine und Pneus.
Lucy ist hibbelig, aber voller Zuversicht. Nicht ganz selbstverständlich, bedenkt man den Fakt, dass es für ihre Premiere am Pikes Peak fast keine Trainingsmöglichkeiten gibt. Bis auf vier Termine, an denen die Strecke jeweils in Segmenten unter rennähnlichen Bedingungen gefahren werden darf. Den Rest muss jahrelange Erfahrung und die Playstation besorgen.
Sie gilt aktuell als eine der schnellsten Frauen der Welt und schafft es von Anbeginn, das rennfahrende Patriarchat aufzumischen. Beim Pikes Peak International Hill Climb geht die gebürtige Zschopauerin als einzige Frau unter 22 Fahrern in den Motorrad-Wettbewerb. Den Alltag als Motorrad-Profi verbringt sie zum einen mit dem Kawasaki Team Schnock, um bei der Internationalen Deutschen Meisterschaft auf Punktejagd zu gehen. Bei der Langstrecken-Weltmeisterschaft mit Team NRT 48 ist sie dagegen auf einer BMW S 1000 RR unterwegs.
Auf Basis letzterer hat Wunderlich Racing für Lucy Glöckner ein „Pikes-Peak-Custom“ geschaffen. Maximal gewichtsreduziert und für kurvenfreudige Wendigkeit ultra kompakt aufgebaut. Höhergelegt um bei unebenem Straßenbelag mehr Bodenfreiheit zu generieren. Herzstück ist das Triebwerk mit gut furchterregenden 215 PS. Mit im Team ist auch Straßenrenn-Ass Thilo Günther, der zum zweiten Mal an den Start geht.
Der Rennsonntag beginnt mitten in der Nacht. Um zwei Uhr früh verlässt der Tross den Hotelpark- platz Richtung Basislager, da gegen drei Uhr die Straße zum Berg für den zivilen Verkehr gesperrt wird. Eine Sicherheitsvorkehrung gegen Überfüllung und damit im Notfall Feuerwehr und Krankenwagen freie Bahn haben. Längs der Straße und auf einem Parkplatz hinter dem Startbereich erwacht eine improvisierte Boxengasse aus Falt-Pavillons und Reifenstapeln, erbaut im kargen Licht unzähliger Stirnlampen. Transporter dienen als Werkstatt und Ruhebereich für die Fahrer zugleich. Denn bis zum Start sind es noch gut fünf Stunden.
Kurz vor acht Uhr morgens steigt die Spannung, der erste Starter macht sich bereit. Ein strahlend blauer Sommerhimmel prangt über den Rocky Mountains. Stimmungslage, wie vor dem Anstich beim Münchner Oktoberfest, also Vorfreude und Hoffnung auf einen Platz in der vordersten Reihe. Hubschrauber kreisen. Selfi-Alarm und aufmunterndes Schulterklopfen allenthalben. Zuerst die 22 Zweiräder, dann 55 Wagen.
Um 08.37 Uhr gibt der Rennleiter die Strecke für Lucy Glöckner als 9. frei. Nach zweihundert Metern Anlauf-Strecke löst sie beim Durchfahren des Starttors die Stoppuhr aus. Der komplette Ritt ist dank GoPro via YouTube nachvollziehbar (https://youtu.be/QwttnUHR0QY). 10 Minuten, 21 Sekunden sind fürs erste Mal eine Spitzen Zeit. Im Gesamtklassement belegt sie den 23. Platz, ihr Team-Kollege kommt als 21. durch. Dann heißt es warten und die einmalige Atmosphäre genießen.
Dank knallorangener Presse-Weste ist es gestattet, an der Strecke entlang zu wandern. Im Abstand von fünf bis 10 Minuten rasen die Kompetitoren an einem vorbei, dazwischen Ruhe in idyllischer Bergwildnis. Unterbrechungen durch kollabierte Fahrzeuge (keine erwähnenswerten Unfälle), und einen Wettersturz mit Schnee und Hagel lassen die Zeit in den frühen Abend verrinnen. Kurz nach 18 Uhr kommt das ganze Starterfeld vom Berg herunter – nicht alle aus eigener Kraft. Ein großer Willkommensbahnhof, High-Fives und freudige Umarmungen von Zuschauern, Fahrern und Veranstaltern. Die Erleichterung über das Ende eines sehr langen Renntags ist allen anzumerken.
Bei der Siegerehrung wird Lucy Glöckner die große Ehre zuteil, mit dem „Rookie of the Year“-Award ausgezeichnet zu werden. Ihr Versprechen am Rednerpult, im nächsten Jahr wieder anzutreten, wird mit sportlich-amerikanischem Beifall gefeiert. „That’s what future champs look like.“ Sagt ein älterer Herr neben mir. Es war seine 36. Teilnahme.
Fotos SASCHA BARTEL
Text PHILIPP STADLER
Der Beitrag erschien in INTERSECTION Nr. 35